Kantha Stickerei

Die Kantha-Stickerei Bihars und West-Bengalens

Kantha – eine alte, kunstvolle Sticktradition
Frauen der ländlichen Regionen Nord-Bihars üben eine uralte Sticktradition aus, die als sujni-kantha bezeichnet wird. Heimtextilien wie Wandbehänge, Bettüberwürfe, Zierkissenbezüge sowie Schals, Saris, Kleider und Kurtas (Hemden) werden mit einer Kombination aus einem fortlaufenden Stich und einem Kettenstich bestickt.

Bengalisches Dorfleben live – kunstvoll gestickt auf Textilien
Die ursprünglichen Designs erzählen vom Rhythmus des täglichen Lebens der Frauen und von ihrer unmittelbaren Umgebung: Immer wieder tauchen Bäume, Tiere des Waldes und Vögel als Motive auf. Andere „gestickte Geschichten“ haben die Abenteuer von Gottheiten und Helden aus der Hindu-Mythologie zum Inhalt. Ein weiteres häufiges Design besteht aus einem zentralen Mandala, in dessen Mitte sich eine Lotusblüte befindet, und einem Paisley in jeder Ecke.

Gestickte Gesellschaftskritik
Seit einiger Zeit werden zunehmend soziale und politische Themen mit Hilfe der kantha-Designs ausgedrückt: es ist ein Mann zu sehen, der die Hand gegen seine Frau erhebt oder Personen, die offensichtlich einen Streit ausfechten. Das ländliche Nordbihar ist nach wie vor von sehr konservativen, patriarchalen Strukturen geprägt. Allwöchentlich berichten die Lokalzeitungen über Fälle von dowry-Morden (Mitgiftmorden) und der Tötung von neugeborenen Mädchen. Frauen haben kaum die Möglichkeiten, den dörflichen Bereich zu verlassen. Daher ist der Stoff, den sie besticken das einzige Medium, um ihre Sorgen und Anliegen zum Ausdruck zu bringen. An großen Stücken arbeiten mehrere Frauen Seite an Seite. Die Nähe ermöglicht ihnen nicht nur den gegenseitigen Austausch von Motiven und Ideen, sondern auch das Teilen von persönlichen Fragen und Problemen.

Stoffe erzählen Geschichten
Für die meisten Wohntextilien wird ein dicker beigefarbener markee-Stoff benutzt. Seltener wählen die Stickerinnen einen braunen oder schwarzen Hintergrund. Für Schals, große Tücher und Jacken wird Tussar-Seide bestickt. Den Frauen ist es ein Anliegen, nur lokal erhältliche Stoffe zu verwenden. Jede Stickerin überlegt sich für jedes neue Stück eine Geschichte, die Komposition der Geschichtsinhalte und die Farbgestaltung. Die sujni-kantha Stickerei ist trotz der relativ einfachen Stiche äußerst arbeitsintensiv. Die Umrisse der einzelnen Motive werden zuerst mit Kettenstichen auf den Stoff „gezeichnet“ und anschließend füllt man das Motiv mit kleinen fortlaufenden Stichen in verschiedenen Farben.

Frauen verfügen über ein eigenes Einkommen
Die autonome Kooperative „Mahila Vikas Sahyog Samiti“ beschäftigt heute circa 600 Frauen aus 22 Dörfern rund um Bhusura (Nordbihar). Damit haben die Frauen endlich die Möglichkeit eigenes Geld zu verdienen, über das sie selbst bestimmen können. Die Stickarbeit ist in vielen traditionellen Gesellschaften die einzige Lohnarbeit, die den Frauen von ihren Familien und Schwiegerfamilien gestattet wird, denn die Stickereien werden in reiner Heimarbeit erzeugt. Für die Stickerinnen hat dies den Vorteil, sich die Zeit frei einteilen zu können, um auch ihren häuslichen Pflichten nachzukommen.

Neues Design für alte Kleider
Eigentlich kann von jeder Frau dieser Region behauptet werden, dass sie Kantha stickt. Oft werden zwei oder mehrere alte, zerschlissene Kleidungsstücke wie z.B. Saris übereinander gelegt und mit einem fortlaufenden Stich zu einer Decke zusammengenäht. Diese wird dann mit vielen kleinen Stickmuster über und über verziert. Entstanden ist die Stickkunst aus dem Kunststopfen armer Familien. Frauen taten schon immer ihr Bestes, die abgetragenen Kleider der Familie kunstfertig zu reparieren und Risse, Löcher oder fadenscheinige Stellen mit hübsche Stickereien zu kaschieren.
Das Sanskrit-Wort „kontha“ bedeutet eigentlich Lumpen. Eine Legende erzählt, dass sich auch Buddha und seine Anhänger in alte Lumpen gehüllt haben, die aus verschiedenen Kleidungsstücken pachwork-artig zusammengenäht und bestickt waren. Alte Stoffreste werden auch oft an Tempelvorsprünge oder an Baumäste geknotet. Sie haben rituelle Bedeutung, fungieren als Gebete und sollen mithelfen, den „bösen Blick“ abzuwenden.

Vielfalt an Motiven, Stickstichen und Verwendungsmöglichkeiten
Die einfache, fortlaufende Kantha-Stickerei hat, je nach der Anordnung und Positionierung der Stiche, verschiedene Namensbezeichnungen. Z.B. Jhod bezeichnet eine paarförmige Anordnung, unter Golak Dhaga versteht man ein labyrinthartiges Muster, Jhinge Phool sieht aus wie kleine Blumen, Dhaan Chori ähnelt einer jungen Reispflanze und Jaal sieht aus wie ein Maschendraht.
Genauso wie die Bezeichnung der Stichmuster individuell ist, unterscheidet man auch verschiedene Kategorien von fertigen Kantha-Stickereien. Sujni Kantha beispielsweise sind grosse Stücke, die als Decken oder rituelle Verhüllungen genommen werden. Unter Rumal Kantha versteht man wiederum Taschentücher oder Zierdecken für Teller und Platten, die ein zentrales Lotosmotiv aufweisen. Lep Kantha sind mehrlagige, wärmende Schultertücher. Baithon Kantha sind reich bestickte Hüllen für Bücher und andere wertvolle Gegenstände mit aufwändigen Bordüren.